Gute Traditionen soll man nicht einschlafen lassen. Zur guten Tradition auf Ybersinn.de gehören Roman-Rezensionen – bevorzugt von Romanen aus nichtybersinniger Herstellung. So gibt es alle paar Jubelmonate mal einen Beitrag in unserer legendären „Ybertopf“-Reihe — diesmal von unserem früheren Hauptstadtkorrespondenten, der im Urlaub doch tatsächlich ein (!) Buch gelesen hat. Dass er mehr nicht schaffte, war nicht seine Schuld.
Zum Schluss recht merkwürdig: der Roman „Der Distelfink“
von Thomas Vögele
Urlaubszeit ist auch die Zeit der dicken Bücher. Endlich kann man die Schmöker zur Hand nehmen, die sich das Jahr über stapeln oder man besorgt sich die Bücher, die man schon länger auf der Liste hat. Oder man wird kurz vor dem Aufbruch auf etwas aufmerksam und schiebt den Stapel wieder zur Seite. So ist es mir diesmal ergangen. In der Frankfurter Rundschau las ich die Besprechung von „Der Distelfink“ der US-Autorin Donna Tartt. Die Kritikerin schrieb eingangs sinngemäß, das sei ein Buch für Frauen … Eigentlich wollte ich da schon die Kritik nicht weiterlesen, habe es aber trotzdem getan und bin neugierig geworden. Vorweg: ich bin nicht dahinter gekommen, was dieser Satz sollte.
„Der Distelfink“ reiht sich ein in die Tradition jener Bücher, die die USA dieser Tage in Form einer Familiengeschichte beschreiben, wie z.B. „Unabhängigkeitstag“ von Richard Ford. Erzählt wird die Geschichte des 13-jährigen Theo Decker, der seine Mutter verliert, als er mit ihr eine Gemälde-Ausstellung holländischer Meister in New York besucht und im Museum eine Bombe explodiert. Ein alter Mann, zufällig im gleichen Raum wie Theo, aber sehr schwer verletzt, fordert ihn auf, das Bild „Der Distelfink“ von Carel Fabritius an sich zu nehmen. Er macht es, gelangt irgendwie ins Freie – und für ihn und das Bild beginnt eine gut 14 Jahre dauernde Odyssee.
Die Autorin Donna Tartt hat Medieninformationen zufolge elf Jahre an dem 1022-seitigen Werk geschrieben. Das merkt man dem Buch an. Man erfährt viel über die holländischen Maler des 17. Jahrhunderts und ihre Arbeiten. Das geht zuweilen sehr ins Detail, wirkt aber nie oberlehrerhaft – im Gegenteil. Man kann viel lernen, wenn man sich darauf einlässt. Man kann in dem Buch auch einiges über Spieler und Spielsucht erfahren, denn Theos Vater, ein abgehalfterter ehemaliger Schauspieler, verdient mit Bacarra und Sportwetten seinen Lebensunterhalt. Da allerdings könnte man auf zu detaillierte Beschreibungen verzichten – das wirkt dann doch ermüdend.
Donna Tartt breitet ein Tableau von Charakteren aus, die sie wunderbar beschreibt und die gleich einem Film vor dem geistigen Auge erscheinen – mir ging es jedenfalls so. Theo streift das Leben der New Yorker Upperclass ebenso wie das in der Wüste Las Vegas. Mit seinem Freund Boris gerät er in einem Drogen- und Alkoholsumpf, bei dem man sich wundert, dass er nach zwei Jahren überhaupt noch lebt. Die Autorin lässt die beiden dermaßen viel harte Sachen saufen, dass jeder Normalsterbliche mehrfach Alkholvergiftungen erlitte.
Ich will nicht noch mehr vom Inhalt wiedergeben, aber doch auf Schludrigkeiten hinweisen, die nach elf Jahren Arbeit nicht passieren sollten: Die Explosion geschieht an einem 10. April. Danach erzählt die Autorin den Beginn von Theos Odyssee, bis er schließlich bei der Upperclass-Familie eines Klassenkameraden unterkommt. Einige Zeit später nimmt er Kontakt zum Geschäftspartner des alten Mannes aus dem Museum auf, der mit seiner Enkelin in der Ausstellung war. Die war schwer verletzt, ist mehrfach operiert worden und soll schließlich nach einer Erholungsphase zu einer Tante nach Texas übersiedeln. Und weil die Autorin noch einen quasi-religiösen Bezug braucht, geschieht dies am Karfreitag, an dem auch noch die Glocken läuten … Da stimmt dann halt leider gar nix. Es gibt später noch einen ähnlich ärgerlichen Zeit-Fauxpas, als Theo nachts um eins von New York nach Amsterdam fliegt und eine mitreisende Gruppe Jugendlicher bei der Ankunft am Gepäckband über die besten Frühstücksmöglichkeiten in der holländischen Stadt diskutiert … Da haben Lektoren und Übersetzer geschlafen.
Zum Schluss wird es leider ein wenig merkwürdig, wenn die Autorin, die die ganze Geschichte aus der Ich-Perspektive Theos erzählt, zehn Seiten vor dem Ende plötzlich den Leser anspricht („Aber wie der Leser dieser Zeilen …“ und kurz vor dem Ende: „… mein nicht existierender Leser“) und schließlich in einen Duktus verfällt, der bei mir die Vermutung nahelegte, hier erzählt nicht mehr Theo, sondern hier schreibt allein die Autorin. Man wird das Gefühl nicht los, sie findet das Ende nicht. Es wird ziemlich verschwurbelt, die FR-Rezensentin nannte es „Wortmüllkitsch“.
Zu lesen lohnt sich der „Distelfink“ trotzdem.
Donna Tartt: Der Distelfink. Goldmann Verlag München. Hardcover 24,99 Euro. E-Book 19,99 Euro.