Advent, Advent, ein Lichtlein brennt – und hier sowie da ist vielleicht sogar richtig Feuer unterm Dach. So gehört sich das an Weihnachten, und so geht es auch zu in unserer neuen Serie Ybersinn reloaded – Evergreens zum Wiederlesen. Bestimmte Dinge kann man nämlich gar nicht oft genug wiedersehen: den eigenen Mann, „Dinner for one“ oder auch die große Ybersinn-Weihnachtsgeschichte. Diese Tradition wollen wir heute fortführen, denn bald ist Heiligabend, und unerklärlicherweise haben wir es noch nicht geschafft, uns angemessen einzustimmen. Aber das wird nun gleich zuverlässig geschehen.
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Eine kleine Weihnachts-Geschichte
Personen:
Tobias — Weihnachtshasser, der Cindy aufgerissen hat und gerade betrunken Auto fährt
Cindy — Beifahrerin von Tobias. Durch sie kommt das Böse in die Welt
Kai — Gamer, der mit tückischen, in Computerspielen unüblichen Waffen konfrontiert wird
Herbert — Fahrer eines Oldtimers, dessen Achsen teuer sind
Pavel — Trucker, der nur nach einer CD sucht, dann aber doch mal zuhaut
Julia — Twingo-Fahrerin und völlig unschuldiges Opfer dieser Geschichte, aber am Ende ist sie in der Zeitung
Ort des Geschehens: Offenbach Taunusring, Odenwaldring, Spessartring. Es ist Heiligabend, und es herrscht Straßenglätte.
Bitte festhalten, Schleudergefahr! Achtung, es geht los …
„Nee, lass mal“, sagte Tobias mit schwerer Zunge, als Cindy sich vom Beifahrersitz herüberbeugte und sich an seinem Hosenstall zu schaffen machte. Bis dahin hatte sich der Abend unerwartet gut entwickelt. Keine schlechte Idee, an Heiligabend vor der Familie ins Postillon zu fliehen. Tobias konnte Weihnachten nicht ausstehen. Auch Cindy war geflohen, und jetzt hatte sie sich etwas in den Kopf gesetzt. Sie zerrte an Tobias‘ Reißverschluss und packte aus.
„Mein Weihnachtsgeschenk“, lallte sie.
Tobias wollte sie wegdrücken, aber da verschwammen die Fahrbahnmarkierungen des Innenstadtrings vor seinen Augen, und er tat lieber beide Hände wieder ans Lenkrad.
„Ich will nur spielen“, brummte Cindy, schnallte sich los und beugte sich hinab.
Warum lallte sie? Ach ja, vorhin im Postillon hatte sie etwa zehn Tequila weggezogen. Vielleicht auch zwanzig. Und Tobias hatte mitgehalten. Das ging ja nicht, dass er sich von Cindy unterkriegen ließ. So nahm dieser beschissene Heiligabend wenigstens noch eine interessante Wende. Cindy verstand sich auf das, was sie „spielen“ nannte. Es zuckte was in Tobias, und sein Fuß zuckte mit. Der Fuß auf dem Gaspedal, wie Tobias staunend registrierte. Irgendwie hing doch alles mit allem zusammen!
Belustigt verfolgte Tobias, wie die Tachonadel unaufhaltsam hochfuhr, ohne dass er etwas dafür konnte. Er versuchte, sich auf die Fahrbahnmarkierungen zu konzentrieren. Gar nicht so einfach, diese Straßenmalerei. Kreuz und quer. Tobias‘ Fuß zuckte energischer. Achtzig Sachen. Neunzig. Tobias grinste zufrieden. So schnell war er noch nie auf dem Taunusring vorangekommen. Er fühlte sich unerwartet frei. Ein wunderbarer Abend! Irgendwas quietschte hinter ihnen, aber das ließ ihn kalt.
Straßenglätte … War da nicht was gewesen in den Verkehrsnachrichten? Er konnte sich nur dunkel erinnern! Und die Farbe Rot – was bedeutete die noch mal gleich im Straßenverkehr? Tobias war nicht sicher und schaltete daher vorsichtshalber den Scheibenwischer ein. Das gleichmäßige Quietschen auf der trockenen Windschutzscheibe beruhigte ihn, und er konnte sich wieder auf die Geräusche von unten konzentrieren. Auch von draußen kamen Geräusche, die sich allerdings nach Krach und Scheppern anhörten, doch er hatte jetzt keine Lust, sich stören zu lassen, und sie blieben ja auch schnell zurück.
Da sprang ihm eine andere Farbe ins Auge. Nicht rot, aber auch nicht grün – und vor allem noch weit weg. Genau, jetzt fiel es ihm wieder ein: Eine Ampel! Davor musste man anhalten! Er trat mit dem freien Fuß und aller Kraft auf die Bremse. Der andere Fuß blieb derweil weiter auf dem Gas. Ging nicht anders, wegen der Zuckungen. Draußen verwirbelte alles, und Tobias konnte keine Fahrbahnmarkierungen mehr erkennen. Stattdessen musste er sich erbrechen. Cindy zuckte zusammen und biss vor Schreck zu. Tobias hörte sich schreien, aber es klang weit entfernt. Dann prallte der Wagen gegen den Laternenmast, der plötzlich im Weg stand, und Cindys Kopf knallte gegen das Lenkrad und sank dann schlaff in seinen Schoß.
Der Aufprall versetzte die Laterne in Schwingungen, und mehrere noch junge Eiszapfen brachen ab und zersprangen mit leisem, fast singendem Klirren auf dem Dach des Autos.
Gerade bog Kai auf seinem Fahrrad im Schleichtempo um die Ecke — Straßenglätte! Er kam von einer kleinen privaten Games-Convention, auf der er mit Freunden Weihnachtsgeschenke erprobt hatte, und war Sieger geblieben. Zu Weihnachten hatte er eine grundsätzlich positive Einstellung — wenn nur die Familie nicht wäre. Noch trug er das Hochgefühl seines Sieges im Herzen, als er sich plötzlich in einem Regen von scharfkantigen Eissplittern wiederfand, die seine Augen behelligten. Eissplitter kamen in Computerspielen nicht vor – eine tückische Waffe! Er verzog vor Schreck das Rad, landete auf der eisglatten Straße und rutschte flott über die Fahrbahn. Julia konnte ihren Twingo noch zur Seite lenken, aber Herberts Mercedes, ein Oldtimer, war zu schwerfällig, er holperte über Kais Radlerbeine und blieb erst ein Dutzend Meter weiter stehen. Wütend sprang Herbert, der das missmutige Gesicht seiner Frau zu Hause nicht mehr ertragen hatte und nun auf dem Weg zu seiner Affäre war, aus dem Wagen und fuhr Kai an:
„Was fällt dir ein, mitten auf der Straße ein Nickerchen zu machen? Weißt du eigentlich, was neue Achsen für so einen alten Wagen kosten?“
Kai blieb die Antwort schuldig, er war momentan bewusstlos.
Doch da nichts in der Geschichte ohne Konsequenzen bleibt und sowieso alles mit allem zusammenhängt, hatte sich etwa hundert Meter zurück Pavel, ein lustiger Tscheche, der einen Vierzehntonner mit österreichischem Kennzeichen auf der Flucht vor der Autobahnpolizei steuerte — er wäre beinahe verhaftet worden, weil ein Drogensuchhund angeschlagen hatte, der in der Toskana von einem abgehalfterten Mafioso misshandelt worden war und daher etwas gegen kleine, krummbeinige, dunkelhaarige Männer hatte, außerdem gilt an Heiligabend Fahrverbot für Lkws –, Pavel also hatte sich nur kurz hinabgebeugt, um nach einer bestimmten CD zu suchen, die er aber nicht finden konnte. Weihnachten war ihm völlig egal. Herberts aufgerissene Augen entdeckte er erst Bruchteile von Sekunden vor dem Aufprall. Wenig später fand sich Herbert wieder in seinem schönen Oldtimer vor, der zu diesem Zeitpunkt allerdings gewisse Blessuren erfahren hatte, von Herbert mal ganz abgesehen.
Pavel sprang aus dem Truck, um sich die Bescherung anzusehen, und traute seinen Augen nicht, als ihm plötzlich ein Kerl mit heruntergelassenen Hosen und Blutschlauch zwischen den Beinen an die Gurgel sprang.
„Was fällt dir ein“, brüllte der Kerl, „hier eine Laterne in den Weg zu stellen!“
Pavel wurde des Überfalls erst Herr, als Julia eingriff, die mit dem Twingo. Andere Autos hatten in sicherer Distanz angehalten, ihre Insassen bildeten einen dichten Kordon aus interessierten Zuschauern um das Geschehen. Einige waren ausgestiegen, machten Bilder mit ihren Handys und feuerten Julia an, als sie Pavel zu Hilfe eilte. Doch der Kerl mit den heruntergelassenen Hosen, obwohl halb verblutet, schien über enorme Kräfte zu verfügen – oder machte mit seinen wirbelnden Armen zumindest einen solchen Eindruck. Jedenfalls flog Julia plötzlich durch die Luft und landete mit dem Kopf voran kurz hinter dem nächsten Fußgängerübergang oberhälftig mit dem Gesicht nach unten in einem öffentlichen Gartenstück, und zwar unter einem Müllkorb. Pavel nutzte die Gelegenheit, dem Blutenden einen ordentlichen Kinnhaken zu verpassen, der ihn niederstreckte und drei Schneidezähne kostete.
Julia, die sich auf ein kuscheliges Weihnachts-Tête-à-Tête mit ihrer neuen Freundin gefreut hatte, kam mit dem Eindruck wieder zu sich, etwas Hartes zwischen den Zähnen zu haben. Sie griff nach dem Gegenstand, den sie – nur so konnte sie sich das erklären – irgendwie aufgeschnappt haben musste, betrachtete ihn im Laternenschein und stellte fest, dass es sich um hartgefrorenen Hundekot handelte, wie er für diese Stadt gerade in öffentlichen Gartenstücken des Winters typisch ist. Sie übergab sich, ihr Kopf fuhr radikal in die Höhe und kollidierte von unten mit dem öffentlichen Müllkorb.
Der hat eine eigene kleine Geschichte, die an dieser Stelle vielleicht ein winziges bisschen zu weit führen würde. Nur so viel sei zusammenfassend verraten: Verschiedenste Jugendliche hatten sich über Jahre hinweg an diesem Mülleimer vergangen, indem sie diverse chemische Experimente mit ihm angestellt hatten — an Silvester beispielsweise mit Feuerwerkskörpern, die in ihm gezündet worden waren, aber auch mit verschiedensten anderen Mitteln, die gern in Nahkämpfen zwischen Jugendbanden eingesetzt werden, also beispielsweise Ätznatron und Salzsäure. Mit dem Ergebnis, dass der Müllkorb zwar noch halbwegs konsistent wirkte, es aber faktisch nicht mehr war. Er versuchte eben, den Schein zu wahren. Sind wir nicht alle so?
Dass dieser Schein trog, erwies sich in dem Moment, als Julias Kopf von unten mit dem Müllkorb kollidierte. Letzterer zerbröselte, sein Inhalt erbrach sich über Julia. Sie geriet in Panik, bekam etwas zu fassen, hielt sich daran fest, schaffte es irgendwie, auf die Beine zu kommen und rannte schreiend mit gereckten Armen auf die Straße. Die Handys blitzten. Eines dieser — schlechten — Fotos war am Folgetag in der lokalen Zeitung zu bewundern. Es zeigte die sichtlich neben sich stehende, müllbehaftete Julia mit einer abgetrennten Menschenhand, die sie über ihrem Kopf schwenkte.
Kai, der Radfahrer, dessen Beine Herberts Achsen übel mitgespielt hatten, überlebte drei Notoperationen. Auch seine Augen konnten gerettet werden. Noch im Krankenhaus begann er mit der Verarbeitung seines Traumas, indem er ein Storyboard und erste Layout-Entwürfe eines neuartigen Computerspiels anfertigte, das in einer Welt spielen soll, in der alles aus Eis ist, auch die Waffen. Es trägt den Arbeitstitel „Holy Horror Sliding Show“ und soll 2016 auf den Markt kommen.
Tobias musste genäht werden und versuchte Monate später auf Anraten seines Psychiaters, sein Trauma mit Hilfe von Prostituierten auf Nebenstrecken im Odenwald zu überwinden. Die Krankenkasse übernahm alle Kosten. Es bedurfte mehrerer Anläufe, bis Tobias die nötige Geschwindigkeit erreichte. Im Verkehrsfunk wurde er verschiedentlich als Hindernis durchgegeben, wenn auch mit verständnisvollem Unterton.
Und die Moral von der Geschicht: Wann wird’s mal wieder richtig Winter?
Diese Weihnachtsgeschichte ist die sensibel bearbeitete und modernisierte Version eines Textes, der am 18.12.2011 auf ybersinn.de erschien. Die damalige Version war als Prolog für einen Krimi gedacht, in dem ich den Jungkommissar Mesut Yıldırım und den Altjournalisten Achim „die Zunge“ Plibischonka in der härtesten Stadt Hessens, nämlich Offenbach, auf die Suche nach demjenigen schicken wollte, der für die Abtrennung der oben auftauchenden Hand verantwortlich ist. Von diesem Krimi gibt es bisher ein Fragment, das etwa 64.000 Zeichen lang ist. Der Krimi sollte nach dem Handlungsmuster gestrickt sein, das schon in diesem Prolog vorgeführt wird: kleine Ursache, große Probleme. Bisher bin ich nicht dazu gekommen, ihn zu schreiben. Aber experimentierfreudig, wie ich nun mal bin, habe ich für diesen Krimi noch einen zweiten, sehr viel düstereren Prolog geschrieben, den Du Dir –> HIER durchlesen kannst. Er ist auch wesentlich kürzer als der oben veröffentlichte.
Die kleine Weihnachtsgeschichte erscheint jedes Jahr von Neuem kurz vor Weihnachten.
Neu: Das Video zum Roman Virenkrieg.
Klick hier, um reinzuschauen:
Regie: Isabella V. Galanty
Musik: Wigbert
Romanvorlage: Lutz Büge
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Virenkrieg ist im Buchhandel erhältlich. Vom Autor signierte Exemplare kannst Du direkt bestellen –> HIER.
Das E-Book gibt es in allen E-Book-Shops. In der Kindle-Edition auf Amazon ist der Roman außerdem in einer zehnteiligen Version erhältlich.
Mehr Information über Virenkrieg –> HIER.
Mehr Information über die anderen Romane von Lutz Büge
darunter Der Osiris-Punkt und Der hölzerne Pharao –> HIER.
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