Huntingtons „Kampf der Kulturen“

Virenkrieg Cover 001Es gibt Bücher, die sollte man mindestens einmal pro Jahr lesen. „Wetzen Sie Ihre intellektuellen Zähne an Huntington“, hat Josef Joffe seinerzeit in der „Süddeutschen Zeitung“ geschrieben. „Einen besseren Gegner und Lehrer werden Sie nicht finden.“ Ich bin selten mit Joffe einer Meinung, aber was „Kampf der Kulturen“ betrifft, hat er recht. Huntington hat vor bald zwanzig Jahren ein epochales Buch vorgelegt, das richtig und falsch und töricht und klug ist, alles zugleich. Es provoziert und fordert das selbständige Denken heraus. Ich habe es jetzt wieder gelesen.

Der „Kampf der Kulturen“ ist Thema
in meinem Thriller Virenkrieg. Mehr Info: –> HIER.

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„Kampf der Kulturen“ von Samuel P. Huntington

Um es gleich vorweg zu sagen: Dieser Wälzer ist keine einfache Lektüre. Er ist — besonders zu Beginn, leider — sperrig, weil er gründlich sein will, denn er ist eine wissenschaftliche Arbeit, das Hauptwerk des Harvard-Politologen Samuel P. Huntington, der 2006 gestorben ist. Es konfrontiert den Leser zunächst mit Grundlagen über Kulturkreise, die meines Erachtens vorausgesetzt werden könnten. Ebenso ist aber festzuhalten: Man wird mit besonderen, lichten Momenten belohnt. Nur um quasi auf der nächsten Seite auf Torheiten zu stoßen.

Die Kulturkreise

Huntingtons theoretisches Gebäude von den Kulturkreisen ist allen gern behilflich, die nicht ertragen, dass die Welt nach dem Ende des Kalten Krieges unordentlich wirkte. Vor dem Fall des Eisernen Vorhangs gab es den Westen, den Ostblock und die Blockfreien — eine globale, identitätsstiftende (?) Ordnung –, danach übernahmen die Kulturkreise (dieser deutsche Begriff entspricht dem englischen „civilizations“) zunehmend diese ordnende Aufgabe. So wurde aus einer bipolaren Welt eine multipolare, die deutlich unübersichtlicher ist. Unter den Kulturkreisen dominiert zurzeit noch der Westen (Kernstaaten: USA, Deutschland, Frankreich), aber er schwächelt. (Huntingtons „Clash of Civilizations“ erschien während der Präsidentschaft von Bill Clinton.) Andere Kulturkreise fordern den Westen heraus, vor allem der sinische (Kernstaat: China) und der islamische (kein Kernstaat). Daneben gibt es noch den christlich-orthodoxen Kukturkreis mit dem Kernstaat Russland, den japanischen, den hinduistischen, den südamerikanischen und den afrikanischen Kulturkreis. (Hinter die beiden letztgenannten setzt Huntington Fragezeichen.) Diese Kulturkreise entstünden aus der Wahrnehmung, dass „wir“ anders als „die“ seien, und aus dem Bedürfnis nach Abgrenzung von „denen“. Auf diese Weise wirken sie identitätsstiftend. Ein wesentliches identitätsstiftendes Element ist außerdem die Religion. (Dazu wäre viel zu sagen. Lassen wir das mal so stehen, ohne es einfach zu glauben; sonst wird diese Rezension uferlos.)

Festzustellen ist: Diese Theorie beschreibt die gegenwärtige globale Realität auf den ersten Blick recht gut. Auf den zweiten Blick allerdings gibt es ein paar Probleme, und die sind nicht gerade gering. Die „Wir gegen die!“-Konkurrenz kommt bei Huntington im Gewand eines Naturgesetzes daher. Tatsächlich begründet Huntington diese angeblich identitätsstiftende Gegnerschaft nicht, sondern setzt sie als gegeben voraus. Damit sagt er im Grunde nichts anderes, als dass die meisten Menschen nur ungern über ihren Tellerrand blicken, dass sie alles, was sie jenseits davon vorfinden, als fremdartig und bedrohlich empfinden — und dass das eben so ist. Nun ja, es gibt Beobachtungen, die diese These stützen könnten. Beim Volksentscheid in der Schweiz etwa, der darauf abzielte, Zuwanderung zu begrenzen, haben jene Kantone am entschiedensten gegen Zuwanderung votiert, die am wenigsten Berührung mit Zuwanderern hatten. Huntington liefert hier eine Chiffre für konservative Gesinnung, die er nicht hinterfragt. Mit anderen Worten: Er argumentiert ideologisch.

Die Religion

Wenn man sich unsere Welt ansieht, kommt man nicht umhin festzustellen, dass überall die Religion erstarkt. Die USA hatten in George W. Bush einen wiedererweckten Christen als Präsident (was bei Huntington 1996 natürlich noch keine Rolle spielte). Muslime und Hindus betonen ihre Religionszugehörigkeit und treten zunehmend militanter auf. In der Ukraine erleben wir gerade etwas, was Huntington als „Bruchlinienkonflikt“ bezeichnet: Entlang der alten kulturellen Grenze innerhalb der Ukraine, die vor einem Jahrhundert noch den westlichen, vom österreichisch-ungarischen Kaiserreich geprägten Teil von einem östlichen, mehrheitlich russisch-orthodox geprägten Landesteil trennte, hat sich die Ukraine-Krise entzündet. Die kulturellen Unterschiede, die Huntington religiös begründet sieht, werden von den aktuellen politischen Protagonisten in Moskau und Kiew in einer Weise hervorgehoben, dass sie zum Kriegsgrund taugen.

Sonderbarerweise verliert Huntington über einen anderen „Bruchlinienkonflikt“ kaum ein Wort, obwohl dieser die Gegenwartspolitik schon der 90er Jahre mehr prägte als jeder andere Konflikt: Der Nahost-Konflikt kommt in „Kampf der Kulturen“ kaum vor. Selbst nach dem Wort Israel muss man mit der Lupe suchen. Das ist sonderbar, denn an dieser Bruchlinie zwischen dem islamischen Kulturkreis und dem westlichen kondensiert der Konflikt zwischen diesen Kulturkreisen doch offenkundig — sofern man Israel zum westlichen Kulturkreis zählen möchte. Aus seiner Gründungsgeschichte heraus ist es zweifellos westlich, zumal das Judentum in seiner ideengeschichtlichen Verbindung mit dem Christentum vom westlichen Kulturkreis — nach Huntingtons Definition — kaum zu trennen ist. Gerade Israel wäre doch womöglich ein Beispiel, an dem sich aufzeigen ließe, auf welche Weise Religion identitätsstiftend wirkt. Offenbar hat Huntington hier einen blinden Fleck. Oder befürchtete er, dass gerade Israel seine Theorie entkräften könnte? Denn durch die zahlreichen Einwanderer, die aus allen möglichen Weltgegenden kamen, ist Israel zu einer multikulturellen Gesellschaft gerade jener Art geworden, gegen die Huntington in Teilen seines Buches geharnischt zu Felde zieht. Sinngemäß sagt er: Eine multikulturelle Gesellschaft ist eine identitätslose Gesellschaft. Israel beweist jedoch das Gegenteil. Das verbindende Element der Einwanderergruppen ist das Judentum, was Huntingtons Theorie von der Wichtigkeit der Religion bekräftigen würde. Es ist wirklich schade, dass er dazu in „Kampf der Kulturen“ nicht mehr geschrieben hat. Man hat den Eindruck, dass er Facetten der Realität ausblendet, die nicht in seine Theorie passen.

Das Kalifat

Auch in den Teilen von „Kampf der Kulturen“, die sich mit den — von Huntington so aufgefassten — Gegnern des westlichen Kulturkreises befassen, lässt er diese intellektuelle Schärfe vermissen. Nehmen wir den islamischen Kulturkreis. Da stellt sich von Anfang an die Frage, warum Huntington diesen Kulturkreis als solchen definiert, obwohl er keinen Kernstaat hat. An anderen Stellen des Buches zieht der Professor in Zweifel, dass Südamerika und Afrika (südlich der Sahel-Zone) eigene Kulturkreise seien, weil sie keine Kernstaaten hätten. Der islamische Kulturkreis aber ist für ihn ein Kulturkreis, obwohl er keinen Kernstaat hat. Wird hier vielleicht ein Feindbild konstruiert?

Der Islam ist wirklich ein Phänomen. Nicht umsonst beschäftigt er „uns“ (im Westen) seit Jahrzehnten — und in letzter Zeit verstärkt. „Wir“ (der Westen) haben dies und das mit ihm gemacht, haben ihm zum Beispiel den Kernstaat genommen: Das Osmanische Reich zerbrach am Ende des Ersten Weltkriegs und wurde unter den damals noch tonangebenden Kolonialmächten England und Frankreich aufgeteilt: Im Sykes-Picot-Vertrag wurden die Einflusssphären in kolonialer Attitüde festgelegt. Damit wurde der Grundstein für ein Unheil gelegt, das uns bis auf den heutigen Tag beschäftigt — und es verwundert, dass Huntington dies nicht thematisiert. In Huntingtons eigener Terminologie gesagt: Mit seinem Kernstaat, dem Osmanischen Reich, wurde dem islamischen Kulturkreis die Identität genommen. Das Kalifat von Byzanz erlosch. Es gab keine Nachfolge. Der Islam wurde kernlos. Ist hier vielleicht der Urgrund für die Radikalisierung vieler Muslime zu erkennen, die seitdem zu beobachten ist? Was würde es für das Christentum bedeuten, wenn die Institution des Papsttums einfach abgeschafft würde? Wo es keine zentrale Macht, keine tonangebenden religiösen Institutionen gibt, kann nach Huntingtons eigener Theorie doch nur Anarchie entstehen. Es ist wirklich sonderbar, dass Huntington seine Theorie gerade beim Islam nicht zuendedenkt.

Mit dem Ende des Osmanischen Reichs starb das Kalifat, und es gab ein Jahrhundert der Verwirrung und des Chaos im Islam. Es gab keine Führungsmacht, keinen Kernstaat. Pakistan? Bevölkerungsreich, inzwischen Atommacht, aber zwiespältige Rolle als Bündnispartner des Westens. Iran? Zu schiitisch. Saudi-Arabien? Reich und mächtig, aber nicht bevölkerungsreich genug und zu sektiererisch, um in die ganze islamische Welt auszustrahlen, außerdem Verbündeter der USA. Die beiden wichtigsten heiligen Stätten des Islam, Mekka und Medina, liegen in Saudi-Arabien, aber das hilft den „Scheichs des Westens“ nicht. Bliebe noch Ägypten. Tatsächlich hat es einen kurzen Moment gegeben, in dem Ägypten indirekt Anspruch darauf erhoben hat, islamischer Kernstaat zu sein — in der Phase der Regierung des islamistischen Präsidenten Mursi. Der Mann hat diese „Chance“ jedoch verspielt.

Als nennenswerter Träger osmanisch-islamischer Identität blieb nach 1918 nur die Türkei, und die ging unter Kemal Atatürk einen bewusst säkularen Weg. Damit, schreibt Huntington, habe Atatürk einen „zerrissenen Staat“ geschaffen: Ihrer Identität nach sei die Türkei islamisch, ihrer politischen Realität nach aber westlich orientiert. Sie war dann auch das einzige islamische Land, das Mitglied der Nato wurde, denn sie war ja nicht mehr islamisch. Offiziell. Inzwischen ahnen wir: Solche identitätstiftenden Kerne von Kulturkreisen können auch mal hundert Jahre verkapselt überdauern. Denn inzwischen hat der türkische Staatspräsident Erdogan Ansprüche angemeldet. Er will die Türkei offensichtlich zum islamischen Kernstaat machen und damit das Vakuum füllen, das der Zusammenbruch des Osmanischen Reichs hinterlassen hat. Zurzeit sieht es so aus, als ob ihm das gelingen könnte. Ob das ein Beitrag zur Befriedigung militanter Strömungen im Islam ist, dies wird die Zukunft zeigen. Erdogan als Kalif — das wird spannend.

Unterm Strich

Wer „Kampf der Kulturen“ aufmerksam liest, wird auch ohne meine Anmerkungen registrieren, dass der Autor ein sehr konservativer Mensch war. Konservative Menschen neigen dazu, Sichtweisen und Argumente auszublenden, die ihnen nicht passen. Manchmal ist das allerdings sogar nötig: Schließlich wollte Huntington eine globale Politiktheorie entwickeln. Da muss man mal ein paar Schritte zurücktreten, um einen besseren Blick auf das große Ganze zu haben. Leider hat das bei Huntingtons Theorie der Kulturkreise nicht vollständig funktioniert — etwa bei der Konstruktion des Konfuzianismus als identitätsstiftender „Religion“ des sinischen Kulturkreises. Der Konfuzianismus ist keine Religion im engeren Sinn, sondern eine Philosophie, die wegen ihrer Betonung traditioneller Werte wie Familie, Leistungsbereitschaft und Kollektivität viel mit dem christlichen Protestantismus gemein hat; der Calvinismus betonte dieselben Werte.

Man mag für Huntingtons „Wir gegen die!“-Ideologie zahlreiche Bestätigungen in der politischen Realität entdecken, vor allem wenn man ein konservsativer Amerikaner ist. Mir ist dieses Freund-Feind-Schema zu simpel. Für Huntington ist beispielsweise Handel zwischen Nationen und Kulturkreisen lediglich ein Mittel, die eigene wirtschaftliche Potenz zu stärken, was letztlich gleichbedeutend ist mit Macht. Dass Handel jedoch auch etwas ist, was Nationen und Kulturkreise verbindet und auf diese Weise voneinander abhängig macht, also letztlich Frieden stiftet, das bestreitet er rundheraus. Auch die Tatsache, dass es eine internationale Organisation namens UNO und wachsende kulturelle und juristische Institutionen gibt, welche die Kulturkreise zunehmend verbinden, wird von Huntington kaum gewürdigt. Seine Kulturkreise sind auf Konkurrenz zueinander ausgelegt. Diese Grundvoraussetzung ist jedoch nicht zwingend. Auch wenn die UNO die Machtverhältnisse nach dem Zweiten Weltkrieg widerspiegelt und nicht die der Gegenwart, arbeiten die Nationen dort gemeinsam an einem Überbau, aus dem vielleicht einmal eine globale Universalkultur entsteht, in der die Kulturkreise aufgehen.

Huntington betrachtet die Welt eben durch die monochrome Brille der Machtpolitik, die auch von Leuten wie Henry Kissinger und Zbigniew Brzeziński getragen wird. Sein Welterklärungsmodell mag anfechtbar sein, aber genau das macht es so spannend. Daher halte ich es hier ausnahmsweise tatsächlich mit Josef Joffe und sage: Huntingtons ist wunderbar dazu geeignet, die intellektuellen Zähne zu wetzen.

In diesem Sinne: Unbedingt lesen!

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Samuel Phillips Huntington: „Kampf der Kulturen“. Taschenbuch. 531 Seiten plus 50 Seiten Anmerkungen. Goldmann Verlag München.

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Thriller von Lutz Büge (Printausgabe)

„Verehrte Herren, lassen Sie mich nun zum Punkt kommen. Welche Kriterien zeichnen ein echtes Killervirus aus? Ich glaube, es sind vier:
Erstens: Hohes Ansteckungspotenzial. Es kann leicht übertragen werden. Unübertroffen ansteckend ist das Pocken-Virus, aber auch Influenza-Viren wie H5N1 können das gut.
Zweitens: Hohe Sterbequote mit dem Potenzial, selbst das beste Gesundheitssystem zum Zusammenbruch zu bringen. Unübertroffen: das Marburg-Virus mit bis zu 90 Prozent Toten.
Drittens: Mieses Image. Unser Killervirus löst Panik aus und lässt das gesellschaftliche Zusammenleben zum Erliegen kommen.
Viertens: Kein Gegenmittel. Es steht kein Impfstoff zur Verfügung und es kann in der Eile auch keiner hergestellt werden. Im Idealfall sollte es sich also um ein unbekanntes Virus handeln, das noch nicht erforscht werden konnte.
Und damit kommen wir zum Kern dieser Veranstaltung, sehr geehrte Herren, denn ich hätte hier etwas für Sie, hier in diesem kleinen, unscheinbaren Hochsicherheitsbehälter …“
Auszug aus den SCOUT-Protokollen, März 2017

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